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Die Textilgeschichte St.Gallens ist so alt wie die Geschichte der Stadt selbst. 15 Kilometer südwestlich vom Bodensee, in einem schmalen, von mehreren Flüssen durchschnittenen Hochtal der Voralpen, kultivierten schon Benediktinermönche in der vom heiligen St. Gallus 612 gegründeten Einsiedelei das karge Land. Und weil in dem 670 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Hochtal nichts gedieh, baute man widerstandsfähigen Flachs und Hanf an, die Basis der Leinenweberei.
Von der Leinwand zum Musselin
  Nach klösterlichem Vorbild ging die Leinwandherstellung
  in die Hände der Landbewohner über. Im Hochmittelalter
  unterhielten St.Galler Kaufleute bereits als Hersteller
  und Exporteure von Leinwand Handelsbeziehungen in ganz
  Europa. Nicht ganz überraschend, denn Leinwand aus
  St.Gallen war ein begehrter Artikel. Schon damals entsprachen
  die ostschweizerischen Textilprodukte höchsten Qualitätsansprüchen.
  Vor dem Versand der Ware prüfte eine städtische
  Kommission das Webmaterial. Nicht einwandfreie Ware musste
  der Händler vor den Augen der Prüfkommission
  eigenhändig zerreissen. Im ausgehenden Mittelalter
  besass St.Gallen Handelsagenturen im Ausland und betrieb
  die ersten regelmässigen europäischen Postkutschverbindungen
  nach Nürnberg und Lyon.
Der Beginn der Baumwoll-Stickerei
  Zu Beginn des 18. Jahrhunderts begann Baumwolle aus den
  amerikanischen Kolonien das europäische, aus Flachs
  hergestellte Leinen vom Markt zu verdrängen. Die
  St.Galler Kaufleute reagierten schnell. Mit ihrem feinen
  Baumwollmusselin beherrschten sie bald das Exportgeschäft.
  St.Gallen entwickelte sich zu einem wichtigen Zentrum
  der Baumwollindustrie. 
  Vor etwa 250 Jahren, Mitte des 18. Jahrhunderts, beobachteten
  St.Galler Kaufleute in Lyon, wie türkische Handstickerinnen
  ihre Seidenware bestickten. Diese Idee griffen die Kaufleute
  auf und beschlossen, nun auch die St.Galler Baumwolle zu
  besticken. Bereits 1790 arbeiteten etwa 40.000 Ostschweizer
  Stickerinnen in Heimarbeit für die städtischen
  Handelsherren. St.Gallen hatte zu dieser Zeit etwa 8.000
  Einwohner, die Umgebung mit den beiden Appenzell rund 100.000.
  Neben der Landwirtschaft konzentrierte sich somit das gesamte
  Erwerbsleben auf das Textil- und Stickereigewerbe.
Stickerei im industriellen Zeitalter
  Ursprünglich war das Besticken von Stoffen reine Handarbeit.
  Mit der Erfindung der Handstickmaschine in der ersten Hälfte
  des 19. Jahrhunderts und der Erfindung der Schiffli-Stickmaschine
  in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann
  für die Stickerei das industrielle Zeitalter. Die
  Erfindung der Handstickmaschine im Elsass 1829 (Josua Heilmann,
  Mühlhausen) ermöglichte erstmals eine fabrikmässige
  Produktion und damit eine enorme Produktionssteigerung.
  Antrieb und Steuerung erfolgten dabei durch Muskelkraft.
  Männer übernahmen fortan die Bedienung der Maschinen,
  während sich die Arbeit der Frauen auf das Nacharbeiten
  der gefertigten Ware beschränkte. 1840 entstand bereits
  die erste grosse Maschinenstickerei in St.Gallen. Etwa
  dreissig Jahre später zählte man allein im Kanton
  St.Gallen schon rund 3.000 Stickmaschinen. Viele Kleinbauern
  liessen sich in Kursen zu Stickern ausbilden und verbesserten
  so in Heimarbeit ihr bescheidenes Auskommen.
  Mit der Erfindung der Schiffli-Stickmaschine 1863 (Isaak
  Gröbli, Uzwil) übernahm die Maschine zusätzlich
  auch die Steuerung und den Antrieb. Mit der steigenden
  Produktion und verringerten Arbeiterzahlen konnten die
  Stickereiwaren günstiger angeboten werden. Ein harter
  Konkurrenzkampf entbrannte zwischen den traditionellen
  und modernen Herstellern.
Blüte und Niedergang
  Politische Stabilität und Handelsfreiheit in den siebziger
  Jahren des 19. Jahrhunderts förderten das Exportgeschäft
  mit Stickereien enorm. St.Gallen entwickelte sich zur Textilmetropole.
  1912 stand die Stickerei an der Spitze der Schweizer Exportgüter,
  gefolgt von der Uhren- und der Maschinenindustrie. Über
  50 Prozent der damaligen Weltproduktion an Textilien stammte
  aus St.Gallen (heute sind es noch 0,5 Prozent). 1919 gipfelten
  die weltweiten Handelsbeziehungen in einem Rekord: die
  Schweiz exportierte Stickereien im Wert von 410 Millionen
  Franken. Mit dem wachsenden Reichtum veränderte sich
  das Stadtbild. Die mittelalterliche Stadtmauer wurde geschliffen,
  reich ornamentierte Geschäftshäuser entstanden
  in der Nähe des Bahnhofs, dessen beeindruckende Ausmasse
  noch heute von der zentralen Bedeutung als Verkehrsknotenpunkt
  zeugen. In den „betuchten“ Fabrikantenhäusern
  am Rosenberg pflegte der Industrieadel Weltoffenheit und
  Kultur, während die Arbeiter in Mietskasernen, die
  in den Vororten der Stadt errichtet worden waren, untergebracht
  wurden.
  Nach dem ersten Weltkrieg stockte der Absatz an Stickereien.
  Der wirtschaftliche Niedergang hatte verheerende Folgen
  für die Sticker: die Löhne sanken, viele Arbeiter
  wurden entlassen. Trotzdem blieb die Stickerei bis in die
  60er Jahre hinein der wichtigste Industriezweig St.Gallens.
Stickereiindustrie heute
  Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung erholte sich die Stickereiindustrie
  nach dem zweiten Weltkrieg und gipfelte 1982 in einem
  zweiten Exportrekord in seiner Geschichte in Höhe
  von 345 Millionen Franken (1919 waren es 410 Millionen
  Franken). 1990 haben die Ostschweizer Stickerei-Exporteure
  für 251 Millionen Franken exportiert. Die Zielgruppe
  des Stickereimarktes veränderte sich nach Kriegsende.
  Stickereien waren kein Privileg des begüterten Bürgertums
  mehr, sondern für die breite Bevölkerung erschwinglich.
  Heute entfallen beispielsweise auf den Damenwäsche-Sektor
  65 Prozent der gesamten Stickereiproduktion, die übrigen
  35 Prozent auf die Damenmode-Branche. Das Angebot der
  St.Galler Textilfabrikanten reicht heute von neuen Kreationen
  für die Haute Couture und Prêt-à-porter über
  Brautkleider, Bett- und Tischwäsche, Sportbekleidung,
  Babykonfektion, Gardinen und Taschentücher. Da die
  Wahl des richtigen Materials und der Farbe ausschlaggebend
  für den Erfolg der Kollektionen bei internationalen
  Einkäufern sind, sind die Investitionskosten vieler
  Textilunternehmen hoch: Bis zu einer Million Franken
  investieren Stickereifirmen jährlich in die Musterung,
  die bis zu 6.000 Dessins pro Jahr umfassen kann. Die
  Schweizer Stickereiindustrie gilt mit mehr als 300 Schiffli-Stickmaschinen – die
  meisten sind heute computergesteuert – als die
  modernste weltweit. Trotzdem gibt es gerade in der Textilbranche
  noch viele Fertigungsbereiche, die trotz Computer fachmännische
  Handarbeit erfordern. Um bei den hohen Produktionskosten
  auf dem Weltmarkt mit den vielen Mitbewerbern in Niedriglohnländern
  bestehen zu können, konzentrieren sich die Unternehmen
  zunehmend auf Spezialprodukte und Neuheiten – mit
  höchstem Qualitätsanspruch. So entwickeln sie
  zum Beispiel klimatisierende Stoffe, mit Vitamin C präparierte
  T-Shirts oder speziell ausgerüstete feuerfeste Materialien.
  Besonders erfolgreich war die erste gestickte textile
  Briefmarke, die von einem angesehenen St.Galler Stickereiunternehmen
  entwickelt und produziert wurde.
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