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                Grieche Homer ist der erste namentlich genannte Dichter des westlichen 
                Kulturkreises. Er lebte vor etwa 2700 Jahren an der westlichen 
                Mittelmeerküste Kleinasiens, die damals Teil der griechischen 
                Welt war, wahrscheinlich in der Region von Smyrna (heute Izmir) 
                und der gegenüberliegenden Insel Chios. Neuere Forschungen lokalisieren 
                ihn in Kilikien im heutigen türkisch-syrischen Grenzgebiet.
 Mit 
                Homers Namen verbinden sich zwei Grossdichtungen in Versform: 
                die fast 16000 Verse umfassende Ilias, die Saga des Kriegs um 
                Troja, und die über 12000 Verse umfassende Odyssee, die Geschichte 
                von den Irrfahrten des Helden Odysseus. Diese Dichtungen haben 
                die Entwicklung der europäischen Literatur und Kultur eingeleitet 
                und bis heute nachhaltig beeinflusst. Ihr Einfluss vollzog sich 
                vor allem auf zwei Gebieten: 
               1. Auf dem Gebiet der Kommunikation 
               Vor 800 v. Chr. waren die Griechen und mit ihnen ganz Europa 
                schriftlos. Kommunikation erfolgte mündlich. Um 800 v. Chr. übernahmen 
                die Griechen das westsemitische Schriftsystem der Phönizier und 
                arbeiteten es zur Basis des heute noch gebräuchlichen Alphabets 
                um - das die meisten Kulturstaaten der Welt in latinisierter oder 
                kyrillischer Form bis heute benutzen. Mit dem Alphabet wurde die 
                Zeichensprache, die den frühen Schriften zu Grunde lag, verlassen, 
                es war jetzt möglich, jedem Laut einen eigenen Buchstaben zuzuweisen. 
                Diese neue Möglichkeit, Gesprochenes exakt schriftlich zu fixieren 
                und damit verbindlich, abrufbar und speicherbar zu machen, bedeutete 
                das Ende der mündlichen und den Beginn der schriftlichen Gesellschaft 
                in Europa. Wirtschaft, Recht, Politik und alle anderen Teilsysteme 
                der Gesellschaft konnten nun überschaubar gemacht und durchorganisiert 
                werden. Die Anfänge der Verschriftlichung waren jedoch im Umfang 
                noch bescheiden. Erst mit den beiden Grossdichtungen Ilias und 
                Odyssee, die um 700 v. Chr. niedergeschrieben und verbreitet wurden, 
                war der Beweis erbracht, dass auch sehr umfangreiche und komplexe 
                Gedankenzusammenhänge verschriftlicht werden konnten. Damit erfüllten 
                diese beiden Werke eine Pionierfunktion in Europa. Homer bedeutet 
                somit den entscheidenden Schritt hin zu jenem Medium, das unser 
                Gesellschaftssystem bis heute beherrscht: zur Schrift.
               2. Auf dem Gebiet der Bildung 
               Der Bildungsgang junger Griechen und 
                zum Teil Griechinnen begann mit der Lektüre von Ilias und Odyssee. 
                Dadurch wurde das Denken der griechischen Führungsschicht jahrhundertelang 
                von Homer geprägt: Jede dieser zwei Dichtungen erzählt eine geschlossene 
                Geschichte; beide Geschichten sind logisch aufgebaut, klar strukturiert 
                und auf hohem gedanklichen und sprachlichen Niveau geschrieben. 
                Damit war ein kultureller Standard gesetzt. Als die Römer mit 
                den Griechen in näheren Kontakt traten, übernahmen sie neben vielem 
                anderen auch die damals bereits hoch entwickelte griechische Literatur. 
                Das erste griechische Werk, das die Römer importierten und adaptierten, 
                war die um 200 v. Chr. übersetzte Odyssee. Diese lateinische Odusia 
                diente in Rom etwa 150 Jahre lang als Schulbuch und damit als 
                Impuls, sich griechische Sprache, Literatur, Philosophie und Geistigkeit 
                anzueignen. Auch hier wieder wirkte Homer als Kulturpionier. In 
                der Neuzeit, seit etwa 1500, erlebte dieser Befruchtungsprozess 
                seine dritte Phase: Homer wurde auch in den neu entstehenden Nationalstaaten 
                Europas - im griechischen Original, in Übersetzungen, Nacherzählungen, 
                Romanen, Bildkunstwerken und anderen Übernahmeprodukten (Oper, 
                Operette, später Film, Hörbuch, Video, DVD usw.) - zu einem der 
                wirkungsvollsten Leitbilder für die gesamteuropäische und die 
                europäisch geprägte außereuropäische Kultur.
               Die Ausstellung versucht diesen Wirkungsprozess nachvollziehbar 
                zu machen.
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