| Goethe hielt sich von 1771 - 1772 in Straßburg
                auf, um sein juristisches Studium zu beenden. Sein Erlebnis
                des Straßburger Münsters war wegweisend für
                das neue Verständnis der gotischen Baukunst. Im naheliegenden Sesenheim traf
                  er die Pfarrerstochter Friderike
                  Brion, die seine Straßburger Zeit bestimmte. Als
                        ich das erstemal nach dem Münster ging, hatt' ich den Kopf
                  voll allgemeiner Erkenntnis guten Geschmacks. Auf Hörensagen
                  ehrt' ich die Harmonie der Massen, die Reinheit der Formen,
                  war ein abgesagter Feind der verworrnen Willkürlichkeiten
                  gotischer Verzierungen. Unter der Rubrik Gotisch, gleich dem
                  Artikel eines Wörterbuchs, häufte ich alle synonymische
                  Mißverständnisse, die mir von Unbestimmtem, Ungeordnetem,
                  Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem
                  jemals durch den Kopf gezogen waren. Und so graute mir's im
                  Gehen vorm Anblick eines mißgeformten krausborstigen
                  Ungeheuers.    Mit
                  welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der Anblick,
                  als ich davor trat! Ein ganzer, großer Eindruck füllte
                  meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelheiten
                  bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs
                  aber erkennen und erklären konnte. Sie sagen, daß es
                  also mit den Freuden des Himmels sei, und wie oft bin ich zurückgekehrt,
                  diese himmlisch-irdische Freude zu genießen. den Riesengeist
                  unsrer älteren Brüder in ihren Werken zu umfassen.
                  Wie oft bin ich zurückgekehrt, von allen Seiten, aus allen
                  Entfernungen, in jedem Lichte des Tags zu schauen seine Würde
                  und Herrlichkeit! Schwer ist's dem Menschengeist, wenn seines
                  Bruders Werk so hoch eh haben ist, daß er nur beugen
                  und anbeten muß. Wie oft hat die Abenddämmerung
                  mein durch forschendes Schauen ermattetes Aug' mit freundlicher
                  Ruhe geletzt, wenn durch sie die unzähligen Teile zu ganzen
                  Massen schmolzen, und nun diese, einfach und groß, vor
                  meiner Seele standen und meine Kraft sich wonnevoll entfaltete,
                  zugleich zu genießen und zu erkennen! Da offenbarte sich
                  mir, in leisen Ahndungen, der Genius des großen Werkmeisters:
                  Was staunst du? lispelt' er mir entgegen. Alle diese Massen
                  waren notwendig, und siehst du sie nicht an allen älteren
                  Kirchen meiner Stadt? Nur ihre willkürliche Größe
                  hab' ich zum stimmenden Verhältnis erhoben. Wie über
                  dem Haupteingang, der zwei kleinere zur Seiten beherrscht,
                  sich der weite Kreis des Fensters öffnet, der dem Schiffe
                  der Kirche antwortet und sonst nur Tageloch war, wie hoch drüber
                  der Glockenplatz die kleineren Fenster forderte! das all war
                  notwendig, und ich bildete es schön. Aber ach, wenn ich
                  durch die düstern, erhabnen Öffnungen hier zur Seite
                  schwebe, die leer und vergebens da zu stehn scheinen. In ihre
                  kühne schlanke Gestalt hab' ich die geheimnisvollen Kräfte
                  verborgen, die jene beiden Türme hoch in die Luft heben
                  sollten, deren, ach, nur einer traurig da steht, ohne den fünfgetürmten
                  Hauptschmuck, den ich ihm bestimmte, daß ihm und seinem
                  königlichen Bruder die Provinzen umher huldigten. Und
                  so schied er von mir, und ich versank in teilnehmende' Traurigkeit.
                  Bis die Vögel des Morgens, die in seinen tausend Öffnungen
                  wohnen, der Sonne entgegenjauchzten und mich aus dem Schlummer
                  weckten. Wie frisch leuchtet' er im Morgenduftglanz mir entgegen,
                  wie froh konnt' ich ihm meine Arme entgegenstrecken, schauen
                  die großen harmonischen Massen, zu unzählig kleinen
                  Teilen belebt, wie in Werken der ewigen Natur, bis aufs geringste
                  Zäserchen, alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen;
                  wie das festgegründete, ungeheure Gebäude sich leicht
                  in die Luft hebt, wie durchbrochen alles und doch für
                  die Ewigkeit. Deinem Unterricht dank' ich's, Genius, daß mir's
                  nicht mehr schwindelt an deinen Tiefen, daß in meine
                  Seele ein Tropfen sich senkt der Wonnen des Geistes, der auf
                  solch eine Schöpfung herabschauen und gottgleich sprechend
            kann: Es ist gut! |