| Topsy und Ned – zwei viktorianische
                        DioskurenDie Bildfolgen zu Dornröschen, Perseus oder König
                      Artus und den Rittern der Tafelrunde waren meist nicht
                      als isolierte Kunstwerke konzipiert, sondern Teil einer
                      umfassenden Raumausstattung mit Möbelstücken,
                      Tapeten, Glasmalereien und anderen plastischen oder textilen
                      Arbeiten. Für diesen Aspekt im Schaffen von Burne-Jones
                      ist seine lebenslange Freundschaft mit William Morris (1834-1896),
                      Dichter und Begründer der Arts and Crafts-Movement,
                      von großer Bedeutung. Morris gilt heute vor allem
                      als Vater des modernen Designs, als Wegbereiter der Ästhetik
                      von Jugendstil und Bauhaus. Dabei war Morris nicht weniger
                      als ein uomo universale des 19. Jahrhunderts, ein begnadeter
                      Dichter, ein umfassend gebildeter Literaturwissenschaftler,
                      Historiker, Maler und Architekt. Mit Burne-Jones, mit dem
                      ihn seit Oxforder Studientagen eine unzertrennliche Freundschaft
                      verband, teilte er vor allem die romantische Begeisterung
                      für Kunst, Literatur und Ästhetik des Hohen Mittelalters
                      und der italienischen Renaissance. Die beiden Künstler
                      verbindet der Wunsch, die Schönheit dieses Goldenen
                      Zeitalters der europäischen Kultur in der eigenen,
                      von der industriellen Revolution geprägten Lebenswirklichkeit
                      wiedererstehen zu lassen. Ihr Streben nach einer moralischen
                      Erneuerung der viktorianischen Gesellschaft spiegelt sich
                      in ihren Werken wider: Das darin enthaltene Heilsversprechen
                      ist letztendlich Ausdruck einer spirituellen Suche, die
                      auch die Werke Schumanns, Wagners und Franz Lizsts wie
                      einen roten Faden durchzieht. Die Karikaturen, in denen
                      Burne-Jones (von Morris „Ned“ genannt) seine
                      Begegnungen mit „Topsy“ (sein Kosename für
                      Morris) festhält, lassen erahnen, dass die physisch
                      so unterschiedlichen Freunde verschiedene Wege einschlagen
                      würden: Der schlaksige Burne-Jones erscheint als zweifelnder,
                      in sich gekehrter Mystiker, während der kleine, untersetzte
                      Morris den unentwegten „Macher“ verkörpert
                    (Kat. 10).
 Dekorationsaufträge für Morris & Co.
  1861 gründete Morris, unter anderem mit Rossetti und
                      Burne-Jones als Teilhabern, die Firma Morris, Marshall,
                      Faulkner & Co. für Dekoration und Innenarchitektur.
                      Burne-Jones arbeitete hauptsächlich als Entwerfer
                      von Glasfenstern und Raumdekorationen in Gestalt von Stickereien,
                      Tapisserien und Mosaiken, während Morris die nicht-figürlichen
                      dekorativen Bordüren lieferte und die Farbstellung
                      festlegte. Daneben entwarf Morris Wandbespannungen, Vorhangstoffe
                      und später seine berühmten Tapeten. Durch wichtige
                      Aufträge und die Teilnahme an weithin beachteten Ausstellungen
                      konnte sich die Firma schnell als führender Lieferant
                      hochexklusiver Innenausstattungen etablieren. So wurde
                      sie 1871 mit der Ausstattung des Dining Room für Palace
                      Green beauftragt, die neu erbaute Residenz des Earl of
                      Carlisle unweit des Kensington Palace. Burne-Jones entwarf
                      einen umlaufenden Fries mit der Geschichte von Amor und
                      Psyche (Kat. 44 – 55), die in eine von Morris gestaltete
                      Wand- und Deckenbemalung eingebettet war. 1874 erhielt
                      die Firma von dem Industriellen Isaac Lowthian Bell den
                      Auftrag zur Ausstattung des Speisezimmers von Rounton Grange
                      bei Northallerton. Für diesen Raum entwarf Burne-Jones
                      einen in Stickerei ausgeführten Fries mit Themen aus
                      dem Roman de la Rose, den die Frau und die Tochter des
                      Auftraggebers in jahrelanger Handarbeit realisierten (Abb.
                      1).  Aus diesen Entwürfen entwickelte Burne-Jones seine
                      späteren Bilderfindungen zu Themen aus der mittelalterlichen
                      Liebesallegorie (Kat. 1-6). Für das im Tudorfachwerkstil
                      erbaute Haus The Hill, das sich der Künstler und Sammler
                      Myles Birket Foster bei Witley, Surrey, hatte erbauen lassen,
                      lieferte die Firma ab 1862 von Burne-Jones entworfene Glasfenster
                      und Kamineinfassungen zu den Themen Aschenputtel, Die Schöne
                      und das Biest und Dornröschen (Kat. 114). 1865 gab
                      Foster bei Burne-Jones den zentralen Künstlerschmuck
                      in Auftrag, einen Georgszyklus (Kat. 27-36), der das Speisezimmer
                      friesartig umlaufen sollte.
 Nachdem sich Morris im Selbststudium
                      die Kunst der spätmittelalterlichen                      Teppichweberei angeeignet hatte (Kat. 19), nahm die Firma
                      auch großformatige Bildteppiche in ihr Angebot auf.
                      Den Auftrag des Unternehmers William Knox D’Arcy
                      zur Ausstattung seines neu erworbenen Landsitzes Stanmore
                      Hall in Middlesex nahmen Morris und Burne-Jones zum Anlass,
                      ab 1890 eine Serie von Bildteppichen zu ihrem gemeinsamen
                      Lieblingsbuch zu entwerfen, Le morte d’Arthur (1469)
                      des englischen Adligen Sir Thomas Malory. Sie wählten
                      die Geschichte der Suche nach dem Heiligen Gral für
                      eine Folge großformatiger Tapisserien aus, die das
                      weitläufige Speisezimmer schmücken sollten (Kat.
                      132-141). Die Essenz dieser Erzählung über Schuld,
                      Vergebung und Erlösung ist bereits in vier kleinen
                      Glasfenstern enthalten, die Burne-Jones 1886 für sein
                      eigenes Anwesen in North End House in Rottingdean unweit
                      Brighton entworfen hatte (Kat. 126-129). Für die Firma
                      entwarf Burne-Jones zudem einzelne Tapisserien und Glasfenster
                      wie Die Anbetung der Könige und Der gute Hirte zwischen
                      Samuel und Thimoteus (Kat. 130 und 142). Der Erfolg dieser
                      Entwürfe führte zu einer bis weit ins 20. Jahrhundert
                      hinein anhaltenden Nachfrage nach den Produkten von Morris & Co.
                      Noch in den späten 1920er Jahren wurden einzelne Motive
                      der Artus-Serie auf Bestellung gewebt und geliefert. Erzählerischer Fluss und dekorativer Stillstand – Das
                      Prinzip der SerieAus seiner Tätigkeit als Designer raumbezogener und
                      raumprägender Bildzyklen, aber auch aus seiner Arbeit
                      als Illustrator bezog Burne-Jones die Inspiration für
                      eigene erzählerische Serien. Die Lektüre von
                      Grimms Märchen sowie die Betrachtung der Illustrationen
                      Ludwig Richters bilden den Ausgangspunkt der Beschäftigung
                      mit dem Dornröschen-Thema, das Burne-Jones in insgesamt
                      drei vollendeten Bildzyklen behandelte (Kat. 114-125).
                      Genuine Probleme des Künstlertums sind Gegenstand
                      der Pygmalion-Serie (Kat. 37-40), die stilistisch eine Öffnung
                      in Richtung der griechischen Antike mit sich bringt. Als
                      Reverenz an Morris’ großes Gedicht The Earthly
                      Paradise ist schließlich die Perseus-Serie zu verstehen
                      (Kat. 62-113.), die ab 1875 im Auftrag des späteren
                      britischen Premierminister Arthur James Balfour für
                      das Gesellschaftszimmer in dessen Londoner Haus entstand.
  Mit seinen erzählerischen Bildzyklen knüpfte
                      Burne-Jones bewusst an malerische Raumdekorationen der
                      italienischen Renaissance wie etwa Andrea Mantegnas Triumphzug
                      Cäsars an. In der Perseus-Folge blieben die dramatischen
                      Szenen um die Auffindung und Tötung der Medusa unvollendet;
                      dafür wurden stillere Episoden wie Perseus und die
                      Graien und das zuerst vollendete Schreckenshaupt (1879,
                      Kat. 109) zur kunstvollen Choreographie und gedankentiefen
                      Beziehungsallegorie ausgestaltet. Der oftmals verschlungene
                      Prozess der Werkentstehung verhilft den Zyklen zu einer
                      dekorativen Harmonisierung, die eine ganz unmittelbare
                      Wirkung auf den Betrachter entfaltet. Die Arbeit an den
                      Details und den Figurenkonstellationen bringt erst die
                      symbolistischen und surrealen Konstellationen hervor, welche
                      die eigentliche Faszination von Burne-Jones’ Kunst
                      ausmachen. So entsteht die eigentümliche Rüstung
                      des Perseus aus einer originellen Vermischung textiler
                      und metallischer Rüstungsteile. In der fast sakralen
                      Ruhe des Schreckenshauptes nimmt ein Bild-Mysterium von
                      geheimnisvoller Schönheit zusehends die Stelle der
                    Nacherzählung der literarischen Vorlage ein.
 Sidonia von Bork und König Artus – Nicht-serielle
                      Meisterwerke
  In der ersten Retrospektive im deutschsprachigen Raum werden
                      neben den erzählerischen Zyklen auch nicht-serielle
                      Hauptwerke aus allen Schaffensphasen Burne-Jones’ gezeigt.
                      Seine frühesten, in ihrer kraftvollen Buntfarbigkeit
                      noch ganz Rossetti verpflichteten malerischen Arbeiten
                      greifen Themen der deutschen romantischen Literatur auf.
                      Die beiden kleinformatigen Gouachen Sidonia von Bork und
                      Clara von Bork (1860, Kat. 22/23) basieren auf Wilhelm
                      Meinholds heute vergessenem Schauerroman Sidonia von Bork,
                      die Klosterhexe (1848). Burne-Jones zeigt keine dramatische
                      Erzählszene, sondern stellt die Antagonistinnen, die
                      schöne, aber abgrundtief böse Sidonia und die
                      herzensgute Clara einander gegenüber. Auch in Burne-Jones’ Hauptwerk
                      Das Glücksrad (Kat. 147), wie der Perseus-Zyklus ein
                      Auftrag Arthur Balfours, ist es eine Frau, Fortuna, die
                      gleichgültig das Rad dreht, auf dem Dichter, König
                      und Sklave hilflos ihrem Schicksal entgegensehen. Die Frau
                      als Klagende und Hoffende begegnet dem Betrachter im monumentalen,
                      unvollendet hinterlassenen Vermächtnisbild des Malers,
                      Der Schlaf des König Artus in Avalon (Kat. 149). Burne-Jones
                      identifizierte sich so sehr mit dem von jugendlich-schönen
                      Königinnen betrauerten Keltenkönig, dass er selbst
                      im Schlaf dessen Haltung einnahm. Zu den Topoi der Artussage
                      gehört, dass Artus in seiner letzten Schlacht nicht
                      gestorben ist, sondern auf einer verwunschenen Insel schläft,
                    um nach seinem Erwachen England zu retten. „Sucher des Inneren im Äußeren“Burne-Jones war sich der visionären Kraft seiner Kunst
                      bewusst und sah sich in einer Rolle ähnlich einem
                      Schamanen, der kraft seiner Selbstkenntnis und seines Wissens
                      um alternative Realitäten in der Lage ist, seinen
                      Mitmenschen den Zauber seiner Welt zu offenbaren. Burne-Jones
                      nutzte seine Kunst, um einer Welt, die er als grau und
                      industrialisiert empfand, die Lebenskraft der Schönheit
                      zurückzugeben. Sein Weg führt ihn zusehends weg
                      von der Sicherheit und Geborgenheit des romantischen Geschichts-
                      und Kunstverständnisses und von der Möglichkeit,
                      Form und Inhalt im überkommenen Sinn zur Deckung zu
                      bringen. Während der lebensvolle Tatmensch Morris
                      zeitlebens an seinem Ideal eines „bunten“ Mittelalters
                      festhielt, wurde Burne-Jones zusehends zu einem „Sucher
                      des Inneren im Äußeren“ (Wassily Kandinsky).
                      Seine späten Artus- und Gralsbilder sind mystische
                      Gleichnisse, deren inhaltliche Offenheit auf Bildstrategien
                  des Symbolismus und Surrealismus vorausweist.
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