|                 Die Schweiz von heute sähe anders aus, hätte es kein
                Konzil von Konstanz gegeben. Denn König Sigismund, der Initiator
                des größten Kongresses im mittelalterlichen Abendland,
                beauftragte die Eidgenossen 1415 gegen die Habsburger vorzugehen
                und für ihn den Aargau zu erobern. Die Vertreter von Zürich,
                Bern, Solothurn, Luzern, Zug, Uri, Schwyz, Unterwalden und Glarus
                zögerten zunächst, waren dann aber mit Begeisterung
                bei der Sache. Gleichzeitig wurden die „Österreicher" auch
                aus dem Thurgau vertrieben und somit die Grundlage für die
                spätere Schweizer Grenze Richtung Norden geschaffen. Apropos
                Thurgau: Als Vorland lieferte er die Infrastruktur für das
                Konzil und seine Teilnehmer. Manche von ihnen lebten sogar, andere
              verbrachten im Thurgau ihre freie Zeit.                  Kein Wunder also, dass Ulrich Richental, der Konstanzer Konzilschronist,
                  schon auf den ersten Seiten seiner handschriftlichen Aufzeichnungen
                  das Thurgauer Hinterland als eine der wesentlichten Voraussetzungen
                  für die Durchführung des großen Konzils nennt: „Papst
                  Johannes XXIII. schickte zwei Männer nach Konstanz, die
                  in Erfahrung bringen sollten, wie dies Land sei, ob man Herberge
                  haben könne und ob eine Meile weit Städte und Dörfer
                  lägen, die die Fremden beherbergen könnten. Daher
                  befahl mir, Ulrich Richental, der Rat zu Konstanz, mit ihnen
                  auf die Dörfer zu reiten, die an der Thur liegen. Das
                  tat ich und ritt mit ihnen zwei Tage lang in den Thurgau. Die
                  Boten aber meinten, es genüge schon die Hälfte [der
                  besuchten Dörfer und Städte im Thurgau], um allen
              Fremden Herberge zu geben."  Diesen Faden nehmen auch die berühmten Schweizer Bilderchroniken
                auf. Der Luzerner Diebold Schilling spielt 1513 z.B. auf den
                Thurgau und seine Funktion als Brückenland während
                des Konzils an. Die Teilnehmer des Konzils sind auf allen Verkehrswegen
              und mit unterschiedlichen Fortbewegungsmitteln im Thurgau unterwegs. Wozu eine große Kirchenversammlung?Im Kern ging es beim Konstanzer Konzil um nichts Geringeres,
                  als um die Einheit der Kirche, auch „causa unionis" genannt.
                  Drei gleichzeitig amtierende Päpste stritten sich um die
                  Führung der „Heiligen Mutter Kirche". Die Wiederherstellung
                  eines einheitlichen Glaubens („causa fidei") stand
                  auf dem zweiten Platz der Tagesordnung; längst hatten
                  sich von Großbritannien aus reformatorische Thesen über
                  Europa verbreitet. Gerade in Böhmen scharten sich um Jan
                  Hus und Hieronymus von Prag viele Anhänger. Auch aus politischer
                  Sicht eine unhaltbare Situation. An dritter Stelle lag der
                  Wunsch, innerkirchliche Missstände zu beseitigen („causa
                  reformationis"). Wichtig für die Zeitgenossen war
                  vor allem der erste Punkt: die Einheit der Kirche. Alle übrigen
                  anstehenden Probleme traten dagegen in den Hintergrund. Um
                  die Einheit wiederherzustellen, einigten sich die versammelten
                  Konzilsväter darauf, alle drei Päpste abzusetzen.
                  Der einzig anwesende, Johannes XXIII., wollte sich dem nicht
                  beugen und floh aus Konstanz, unterstützt durch einen
                  mächtigen Habsburger: Herzog Friedrich IV.
  Die Eidgenossen greifen ein In dieser delikaten Situation wandte sich König Sigismund
                an die Eidgenossen. Sie galten schon immer als die militärische
                Elite des Reichs. Der Habsburger, dessen Stammlande und -burg
                im Aargau lagen, hatte sich auf die Seite des abgesetzten Papstes
                geschlagen und sich damit gegen das Konzil gestellt. Sigismund
                verhängte über ihn die Reichsacht. Die eidgenössischen
                Truppen eroberten den Aargau und vertrieben die Habsburger. Nun
                standen sie am Rhein und diese Position gaben sie auch nach der
                ersten Unterwerfung des Herzogs nicht mehr auf. Etwas anders
                verlief die Situation im Thurgau. Auch hier beanspruchten die
                Habsburger ihre Machtposition. Im Gegensatz zum Aargau waren
                es aber die Truppen der Reichstädte um den See, die den
                Thurgau befreiten. Dies alles geschah unter dem Schirm des Heiligen
                Römischen Reichs, zu dem die Eidgenossenschaft bis zum Westfälischen
                Frieden (1648) noch zählte, und zu dem sie sich auch zugehörig
                fühlte. Deshalb verlieh König Sigismund im Umfeld des
                Konzils vielen Städten auf dem Territorium der heutigen
                Schweiz die Reichsfreiheit (d.h. eine weitgehende Autonomie gegenüber
                regionalen Herrschern), z.B. Glarus, Zug, Rapperswil, Luzern,
              Winterthur ...
 Frühes Reiseland SchweizViele der kirchlichen und weltlichen Konzilsteilnehmer reisten
                  aus Süden, Osten und Westen nach Konstanz, d.h. sie kamen über
                  Chur, St. Gallen, Bern, Zürich, Solothurn, Basel oder
                  Schaffhausen und nutzten diese Wege auch während des Konzils
                  oder bei ihrer Abreise, überall meist freundlich und -
                  je nach Stand - auch mit großen Festlichkeiten begrüßt.
                  So z.B. König Sigismund bei seiner Anreise 1414 in Bern
                  oder Papst Martin V. während seiner Rückreise nach
                  Rom im Jahr 1418. Bei den Reisenden handelte es sich aber nicht
                  nur um Angehörige der Christenheit oder der Oberschicht. „Multikulti",
                  würde man heute sagen, bewegte sich auf den Straßen,
                  Flüssen oder Seen der Schweiz. Konstanz und der Thurgau
                  waren dabei Ziel und Zwischenstation. Es ging zu wie im sprichwörtlichen
                  Taubenschlag. Gerade Sigismund, der erwählte römische
                  König, kann hier als Beispiel dienen. Er reiste 1414 von
                  Asti aus via Bern und Basel nach Aachen, um sich krönen
                  zu lassen. Anschließend bewegte er sich kreuz und quer
                  in und um Konstanz, nahm an diplomatischen Missionen teil oder
                  nutzte die Verkehrswege via Schaffhausen nach Frankreich und
                  Spanien. Ähnlich Johannes XXIII., der später abgesetzte
                  Papst. Über Tirol und das Rheintal kam er an den See.
                  1415 floh er aus Konstanz durch die heutige Schweiz. Nach seiner
                  Verhaftung in der Nähe von Basel wurde er ins trutzige
                  Schloss von Gottlieben (TG) verbracht. In die gleiche Festung übrigens,
                  in der auch der später hingerichtete böhmische Reformator
              Jan Hus schmachtete.
 Gastgeber EuropasNicht nur aus der Konzilschronik von Ulrich Richental lässt
                sich die Wichtigkeit der heutigen Schweiz für das Konzil
                ersehen. Poggio Bracciolini, einer der bedeutendsten Vertreter
                des Frühhumanismus, schreibt in einem Brief, dass ihn die
                Gicht in seinen Händen dazu getrieben habe, von Konstanz
                aus die Bäder von Baden zu besuchen. Er schildert seine
                Reise und seinen Aufenthalt dort. Diesen nutzte er auch „zur
                Durchsuchung der nachbarlichen Klöster nach alten Handschriften" und
                wurde dabei fündig.
 Aber auch Dinge des täglichen Lebens, wie Nahrungsmittel,
                Baumaterialien oder Gebrauchsgüter gelangten von Süden
                aus nach Konstanz. Sie wurden vielfach in den heutigen Kantonen
                St. Gallen, Zürich, Chur, Thurgau, Bern, Aargau usw. produziert
                bzw. umgeschlagen. Was für ein Prestige, aber auch was für
                ein lukratives Geschäft winkte hier! Schon früh gab
                es Preisabsprachen mit den Konstanzern; nicht nur für Grundnahrungsmittel,
                sondern auch für Unterkünfte oder Dienstleitungen aller
                Art. Die Klöster, Schlösser, Landsitze und Gärten
                des Thurgaus dienten zur Unterkunft, aber auch als Beratungsorte
                oder einfach zur Entspannung. Kreuzlingen, Münsterlingen,
                Tobel, das schon erwähnte Gottlieben sind nur einige Namen,
                die hier genannt werden. Abschließend sei noch einmal Ulrich
                Richental zitiert. In seiner Chronik erinnert er sich: „Inzwischen
                [1415] dauerte das Konzilium in Ruhe und Eintracht weiter, und
                die Fremden waren so sicher, dass sie auf eine Meile weit um
                Konstanz in die Städte und durch die Wälder und wohin
                sie sonst gehen wollten, spazieren gehen konnten [... . Es gab]Wirte,
                die allerlei Wein schänkten, wie man es wünschte. Bei
                ihnen fand man auch gebratene Hühner und was man sonst begehrte,
                auch hübsche Frauen. Die geistlichen Herren gingen spazieren,
                in welchem Garten sie auch immer wollten, und niemand wehrte
              es ihnen."
  Fazit: Ohne die Infrastruktur und Gastfreundschaft der heutigen
                Schweiz hätte das „Große Abendländische
                Konzil" - wie es auch gerne genannt wird - nicht stattfinden
                können. Mit einem Augenzwinkern könnte man sogar sagen,
                das Konstanzer Konzil fand in der Schweiz statt. Denn die Reichsstadt
                Konstanz zählte gerade im 15. Jahrhundert zu den bevorzugten
                Versammlungsorten der werdenden Eidgenossenschaft, das Konstanzer
                Bistum nicht zu vergessen, das weite Teile der heutigen Schweiz
                umfasste. Trotz seiner Auflösung 1821/27 sind dessen Spuren
              in der Schweiz noch vielfach gegenwärtig. Text:  Dominik Gügel (M.A.)/ Konzilsjubiläum
                Konstanz - pr2 |