Nach und neben Friedrich Ebert und Gustav Stresemann kann Hermann 
                Müller als eine der wichtigsten politischen Persönlichkeiten der 
                Weimarer Demokratie gelten. An seiner Biographie lassen sich wie 
                an kaum einer anderen die Handlungsspielräume, Möglichkeiten und 
                Versäumnisse sowie das tragische Scheitern der von beiden politischen 
                Rändern herausgehöhlten ersten deutschen Republik aufzeigen. Um 
                so erstaunlicher ist es, dass diesem vom jahrzehntelangen Kampf 
                um die Demokratie geprägten und letztlich auch davon aufgezehrten 
                Leben bislang nur sehr wenig Augenmerk gewidmet wurde. 
              
Die aus Anlass von Müllers 125. Geburtstag vom Stadtarchiv Mannheim 
                vorgelegte Publikation beansprucht nicht, die klaffende Forschungslücke 
                zu schließen. Wohl aber soll die "Kleine Schrift" einen Anstoß 
                geben, den langjährigen Vorsitzenden der Reichs-SPD auch und gerade 
                in seiner Geburtsstadt in der kollektiven Erinnerung zu verankern. 
              
1876 als Sohn eines Kaufmanns in Mannheim geboren, verbrachte 
                Hermann Müller seine Kindheit in der Quadratestadt - er wuchs 
                auf in N 4,6 und K4,21/2 - und besuchte bis zum Wegzug der Familie 
                im Jahr 1888 das örtliche humanistische Gymnasium 
              
 (heutiges Karl-Friedrich-Gymnasium). Wie er später mehrfach 
                bekundete, hat ihn das freie politische Klima im deutschen Südwesten 
                für sein weiteres Leben nachhaltig geprägt. Im Jahr 1906 sollte 
                die Geburtsstadt noch einmal eine wichtige Rolle in Müllers Leben 
                spielen: Auf dem Mannheimer SPD-Parteitag wurde er in den Parteivorstand 
                gewählt. In den folgenden Jahren bildete er dort zusammen mit 
                Friedrich Ebert die "junge Garde" und füngierte zugleich mehr 
                und mehr als der "informelle Außenminister der deutschen Sozialdemokratie". 
              
Als Mitglied des Zentralrats der Arbeiter- und Soldatenräte, 
                als einer von drei Vorsitzenden des Vollzugsrats, als Fraktions- 
                und Ausschussvorsitzender in der Nationalversammlung und bald 
                auch als Parteivorsitzender hat Müller die demokratische Umbruchphase 
                unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in vorderster Reihe mitgestaltet. 
                Die ihm im Juni 1919 auferlegte schwere Pflicht, als Außenminister 
                der neu gebildeten Regierung Bauer den Versailler Vertrag zu unterzeichnen, 
                machte ihn bereits am Beginn der Weimarer Republik zu einem der 
                Hauptangriffsziele nationalistischer Hetze gegen die vermeintlichen 
                "Novemberverbrecher", gegen "Erfüllungspolitik" und Versailler 
                "Schand- 
              
 diktat". Nach der Niederschlagung des Kapp-Lüttwitz-Putschs 
                im März 1920 übernahm Müller die undankbare Aufgabe, als Kanzler 
                eines nur drei Monate währenden Übergangskabinetts die unmittelbaren 
                Folgen des Putschs zu bewältigen und zu verantworten; die Neuwahlen 
                im Juni desselben Jahres fegten die SPD aus dem Kanzleramt. 
              
Nach Jahren konstruktiver Opposition als Führer nicht nur seiner 
                Partei, sondern auch der SPD-Reichstagsfraktion trat Müller im 
                Frühsommer 1928 für knapp zwei Jahre erneut an die Spitze einer 
                Koalitionsregierung - der letzten parlamentarisch legitimierten 
                Regierung der Weimarer Republik, wie sich erweisen sollte. Zusammen 
                mit Reichsaußenminister Stresemann konnte er noch im selben Jahr 
                eine Revision des Reparationsplans und eine vorzeitige Räumung 
                des Rheinlands durchsetzen. Ungeachtet dieses außenpolitischen 
                Erfolgs geriet der Reichskanzler freilich schon bald in einen 
                letztlich nicht zu bewältigenden Spagat zwischen dem nach Strese-mannsTod 
                1929 weiter nach rechts abdriftenden Koalitionspartner DVP einerseits 
                und seiner zunehmend an die Grenzen ihrer Kompromissfähigkeit 
                geratenden eigenen Partei. Hinzu gesellten sich Intrigen aus dem 
                ultrarechten Lager um Reichspräsident v. Hindenburg, das zielgerichtet 
                auf eine Regierung unter Ausschluss der SPD hinarbeitete - und 
                damit auf ein Präsidialkabinett. 
              
 In historischer Perspektive betrachtet, stellt das zweite Kabinett 
                Müller die "letzte Chance" der Weimarer Republik dar, ihr Scheitern 
                im März 1930 markiert den Anfang vom Ende der ersten deutschen 
                Demokratie. Die "Machtergreifung" des Nationalsozialismus freilich 
                sollte Müller nicht mehr erleben: Er starb im März 1931 im Alter 
                von nur 54 Jahren, verschlissen im Kampf für eine gerechte Sache 
                - auch hier liegt eine Parallele zu Ebert und Stresemann. 
              
Zur Autorin: Andrea Hoffend, geb. 1962 in Mannheim, 1981-1987 
                Studium der Politischen Wissenschaft und Zeitgeschichte, der Germanistik 
                und Ostslawistik. 1987-1989 wissenschaftliche Mitarbeiterin an 
                einem Forschungsprojekt zur deutschen Gewerkschaftsgeschichte, 
                1990-1994 Assistentin am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft 
                und Zeitgeschichte der Universität Mannheim (Professor Dr. Hermann 
                Weber), 1996 Promotion zum Dr. phil. mit einer Studie über die 
                Kulturbeziehungen zwischen "Drittem Reich" und faschistischem 
                Italien, seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Stadtarchivs 
                Mannheim. Veröffentlichungen u.a. zum NS-Sprachge-brauch, zu Konrad 
                Adenauer, zur sozialdemokratischen und zur christlichen Arbeiterbewegung 
                sowie zur Mannheimer Lokalgeschichte.